ars poetica (3)

Hermann Hesse:

Ein Gedicht ist in seinem Entstehen etwas ganz Eindeutiges. Es ist eine Entladung, ein Ruf, ein Schrei, ein Seufzer, eine Gebärde, eine Reaktion der erlebenden Seele, mit der sie sich einer Wallung, eines Erlebnisses zu erwehren oder ihrer bewusst zu werden sucht. In dieser ersten, ursprünglichen, wichtigsten Funktion ist überhaupt kein Gedicht beurteilbar. Es spricht ja zunächst lediglich zum Dichter selbst, ist sein Aufatmen, sein Schrei, sein Traum, sein Lächeln, sein Umsichschlagen. …

Manchmal geschieht es nun, dass ein Gedicht außer dem, dass es den Dichter entspannt und befreit, auch noch andere erfreuen, bewegen und rühren kann – dass es schön ist. Vermutlich ist es dann der Fall, wenn das, was es ausdrückt, etwas vielen Menschen Gemeinsames, bei allen Mögliches ist. Aber gewiss ist es keineswegs.

Hier beginnt nun ein bedenklicher Kreislauf. Weil „schöne“ Gedichte den Dichter beliebt machen, darum kommen nun wieder eine Menge von Gedichten zur Welt, welche nichts als schön sein wollen, die gar nichts mehr wissen von der ursprünglichen, urweltlichen, heilig-unschuldigen Funktion des Gedichtes. Diese Gedichte sind von allem Anfang an für andre gemacht, für Hörer, für Leser. Sie sind nicht mehr Träume oder Tanzschritte oder Schreie einer Seele, Reaktionen auf Erlebnisse, gestammelte Wunschbilder oder Zauberformeln, Gebärde eines Weisen oder Grimasse eines Irren – sie sind bloß noch gewollte Erzeugnisse, Fabrikate, Pralines für das Publikum. Sie sind gemacht worden, um verbreitet und verkauft und von den Käufern zur Erheiterung oder Erhebung oder Zerstreuung genossen zu werden. …
Diese „schönen“ Gedichte nun können einem zuzeiten ganz ebenso entleiden und zweifelhaft werden wie alles Gezähmte und Angepasste, wie die Professoren und Beamten. …

 

Aus: Die schönsten Gedichte von Hermann Hesse, Diogenes Verlag,

Kleine Diogenes Taschenbücher 70046,  S. 117–120.