ars poetica (2)
Ulrich Greiner:
Das Gedicht aber ist ein besonderer Fall. Erstens deshalb, weil es eine gewaltige Zahl von Autoren gibt, die mehr oder weniger unbemerkt Gedichte schreiben – wobei ich vermute, dass sich jeder intelligente, schreibfähige Mensch irgendwann einmal in seinem Leben an Gedichten versucht hat. Und zweitens, weil das Gedicht im endlosen, oft auch formlosen Gelände der Literatur einen Höhepunkt darstellt: vielleicht einen Elfenbeinturm, vielleicht einen Hochsitz, vielleicht auch einen nebelumwogten Gipfel, den zu erklimmen nur wenige lockt. Ich jedenfalls glaube, dass Lyrik die schönste und reinste, allerdings auch schwierigste Form literarischen Schreibens ist. Sie zu lesen, sie zu verstehen bedarf einer gewissen Übung und gewisser Kenntnisse. Und manche Gedichte führen uns an die Grenze des Verstehens, wobei sich schon das Wort „Verstehen“ nicht von selbst versteht. …
Das Gedicht, die gebundene und ursprünglich gesungene Rede, ist nicht nur der Anfang, sondern auch die Königsdisziplin der Literatur.
(Zitat aus: Ulrich Greiners Lyrikverführer, Verlag C.H. Beck, Seiten 7/8)