ars poetica (6)
Erika Mitterer: aus “Gesang vom Vergessen”
Worte werden vergessen, Blicke und zarte Berührungen,
und in der Trennung sind wir versteinert. Die Hoffnung
neuer Vereinung erlischt beim prüfenden Blick in den Spiegel
und die Schwester der Hoffnung, Erinnerung, welket mit ihr.
Aber die Dichter, die niemals alternden, leben
abseits, inmitten der Menge, eigenen Seins kaum bewusst.
Euch zum Ruhme, ihr Götter, lassen sie Seite um Seite
leuchten in Bildern, die selber sie niemals erschauten;
weniges wissend, lassen sie dennoch die Weisheit
reden; lassen in Qualen ächzen, an denen sie stürben,
wenn sie sie fühlten! Aber sie fühlen sie gar nicht.
Denn sie sind es, die Dichter, die alles Vergessene des ganzen
Menschengeschlechtes erinnern und, so wie Kinder bemalte
Klötzchen, fügen mit Lust zu einem sinnreichen Bild,
das sie manchmal bestaunen, und manchmal
gar nicht verstehen, und manchmal wieder zerstören.
Aus der Buchreihe „Landvermessung“, Band 20, Residenz Verlag, Seite 318.