Festvortrag “Der weite Weg zur ‘neuen mundart’”
Festvortrag von Stelzhamerbund-Präsident Klaus Huber, gehalten beim Festabend zum Jubiläum „20 Jahre neue mundart“ am 26. September 2017 in der OÖ. Landesbibliothek:
„Der weite Weg zur neuen mundart“
Vor hundert, hundertfünfzig Jahren wurde der Mundartliteratur ein heutzutage unvorstellbarer Stellenwert beigemessen. Das belegen zahlreiche Abhandlungen von Germanisten, Dissertationen, auch Streitschriften. Dieser wissenschaftliche Ernst im Umgang mit Mundartliteratur ist verloren gegangen. Fehlt er uns? Sind manche Vertreter der Mundartliteratur sogar froh, dass sie deshalb keiner ernsthaften Diagnose – und damit Kritik – ausgesetzt sind?
Andererseits jedoch würden auch scharfe Kritiker erkennen, welch reiches Potenzial hier unbeachtet und deshalb weitgehend unerkannt vorhanden ist: hochtalentierte Lyriker, verblüffende Satiriker, Aphoristiker, mitreißende G’schichtnschreiber, die zu bescheiden sind, für sich eine wichtiger klingende Bezeichnung einzufordern. Literarische Kraft kann sowohl in philosophischen wie auch in lustigen Geschichten liegen!
Literatur soll gesellschaftliche Themen aufgreifen, menschliche Schwächen bloßstellen, Missstände kritisch hinterfragen. Warum nicht mit einem Lächeln auf den Lippen? Literatur, die auch unterhaltsam ist, erreicht mehr Leser und Zuhörer. Es möge nichts Schlimmeres passieren.
Wie hat sich unsere Mundartliteratur entwickelt?
Zeitensprung vom 21. ins 12. Jahrhundert, von der „neuen mundart“ unserer Tage zurück zu sehr früher Literatur aus diesem Gebiet, das – erst seit weniger als 100 Jahren – als Oberösterreich bezeichnet wird. Vor 900 Jahren schrieb ein früher Mühlviertler, Dietmar von Aist:
Ez stuont ein frouwe alleine und warte über heide und warte ir liebes, so gesách si valken vliegen. ‚sô wol dir, valke, daz du bist! du vliugest, swar dir liep ist, du erkíusest dir in dem walde einen bóum, der dir gevalle. alsô hân ouch ich getân: ich erkôs mir selbe einen man, der erwélten mîniu ougen. daz nîdent schoene vrouwen. owê, wan lânt si mir mîn liep? joch engérte ich ir dekeines trûtes niet!‘ |
“Eine Frau wartete auf der Heide auf ihren Liebsten. Da sah sie einen Falken fliegen, und sie rief ihm zu: Du, Falke, hast dir den Baum ausgesucht, der dir gefällt, und bist auf ihm gelandet. So hab’s auch ich gemacht, meine Augen haben den Mann erkoren, um den mich jetzt andere schöne Frauen beneiden. Wehe, wollen sie mir meine Liebe nicht lassen? Ich habe sie noch nie um einen der ihren beneidet…”
Zur Zeit Dietmars von Aist lebte auch „Der Kürenberger“ – die beiden ältesten, namentlich bekannten deutschen Lyriker und Minnesänger. Der Kürenberger stammte entweder aus dem Kürnberger Wald nahe Linz oder aus der Siedlung Kürnberg im heutigen St. Peter in der Au, nahe der Mündung des Flusses Aist in die Donau. Lieder der beiden sind im „Codex Manesse“ erhalten, der umfangreichsten deutschen Liederhandschrift des Mittelalters.
An die nächstälteste Dichtung, die auf heute oberösterreichischem Boden entstanden ist, erinnert die Meier-Helmbrecht-Gedenkstätte in Gilgenberg (Bezirk Braunau): die Verserzählung „Meier Helmbrecht” aus dem 13. Jahrhundert, verfasst von Wernher dem Gaertenere, die erste sozialkritische Dorfgeschichte. Sie behandelt die Verirrungen eines Bauernsohnes, der sich zu Höherem berufen fühlt, vor dem Hintergrund des Verfalls des Rittertums und seines Niedergangs zum Raubrittertum.
Auf der Suche nach weiterer Literatur in bodenständiger Sprache verschlägt es uns jetzt weit durch die Zeiten, bis in die 1740er Jahre. Wir stoßen auf zwei Mönche, den sprachgewandten Maurus Lindemayr und seinen Musikerfreund Ernest Frauenberger.
Maurus Lindemayr (1723 – 1783), Mönch im Benediktinerstift Lambach, wurde Mitte des 18. Jahrhunderts bekannt, ja populär wegen seiner Theaterstücke und Gedichte, die er – als Erster – in oberösterreichischer Mundart verfasste. Der geistliche Herr ließ seine Figuren in humorvoller, uriger, sogar derber Sprache auftreten. Charaktere aus dem gehobenen Stand – Adelige, Beamte, Geistliche – wurden karikiert und ihre negativen Eigenschaften wie Neid, Eitelkeit und Geiz lächerlich gemacht.
Maurus Lindemayr wusste um den Erinnerungswert der Musik: Wem eine Melodie gefällt, der vergisst auch den Text nicht so schnell. Singen prägt ein. Daher schrieb er vieles in Form von Liedtexten und fand dafür im Stift Lambach einen begabten Komponisten: Ernest Frauenberger, 46 Jahre jünger, doch kongenial. Ein Beispiel ihres gemeinsamen Schaffens: „Die Hexe“.
Auf da Ofngabl fahrt män Muedä
wie ä Hex in Lüftn umädum
macht än ötla meil grads in ain Fuedä
und dä Fex mein Vadä waiß nix drum.
Z’nächstn bin i haimli nachi gschlicha,
wia s in Kellä drunt hat butä grührt
in än flux da hats ihr d’Wang angstricha,
aftn hat s da Toifl wögga gführt.
woaß nöt iß a Bösn odä Gabl gwösn,
auf dem s grittn is, han s nät betracht.
Is auf d’Nacht beym Essen wida bei uns gsessn –
hat uns leicht da Toifl d’Suppn gmacht?
Der Hexenwahn ist überwunden. Von zeitloser Aktualität ist dagegen Lindemayrs Lied „Klage eines Bauern über die neuen Zeiten“. Darin heißt es u. a.:
Wenn eine neue Tracht aufkommt, bedeutet das ein Ende der guten alten Zeit. … Die Studenten, diese Parasiten, haben jedes Jahr nach ihrem Studium Ferien! … Früher konnte der Bauer gut leben auf dem Land, Blutwurst und Bratwurst und Schinken fressen, Schnaps und Most dazu trinken und keine Steuern zahlen an die Herrschaft; jetzt muss er seinen dürren Bauch mit Sauersuppe, Sterz und Knödel stopfen, er wird ausgepresst und ausgequetscht. …
Dieses elende, hundsföttische Leben ist mir schon zuwider wie der Sauerampfer. Ich muss etwas anderes anfangen. Das Handeln und Hausieren ist einträglich; und eher würde ich noch mit dem Sauschneiden beginnen, als noch länger ein Bauer zu bleiben.
Was ist die bleibende Bedeutung Lindemayrs? Er wurde mit seinem umfangreichen Werk zum Begründer der oberösterreichischen Mundartliteratur.
Allerdings setzte erst im 19. Jahrhundert der große Aufschwung ein. Die Mundartdichtung boomte, würden wir heute sagen, sie wurde in Adels- und Künstlerkreisen anerkannt. Den etwa zwei Dutzend Autoren, die dazu das meiste beitrugen, ging einer voran: Franz Stelzhamer (1802 – 1874). Der talentierte Bauernbub aus dem Innviertler Dorf Großpiesenham war, nach der Matura an einem Salzburger Gymnasium, von riesigem Ehrgeiz beseelt: Zu den größten deutschen Schriftstellern in Hochsprache wollte er einmal zählen. Er scheiterte.
Seinen Durchbruch erlebte er als 35-Jähriger mit den „Liedern in obderenns’scher Volksmundart“. Er wurde beliebt und begehrt. Trotz anhaltenden Erfolges tingelt er jedoch vagabundierend durch die Lande und hatte immer Schulden, pumpte jeden um ein „Privatdarlehen“ an – bis ihm schließlich das Land Oberösterreich mit einem Ehrensold ein gesichertes Leben ermöglichte.
Stelzhamers Rivale Carl Adam Kaltenbrunner (1804 – 1867) aus Enns besuchte Gymnasien in Linz und Admont und wurde schon in jungen Jahren nach Wien berufen, in die k. u. k. Hof- und Staatsdruckerei. Auch er begann mit hochdeutschen Gedichten und Balladen. Ohne Erfolg. Wie sein Vorbild Stelzhamer macht er sich mit Dichtungen in obderenns’scher Mundart einen Namen. In Wiener Künstlerkreisen willkommen geheißen, wurder er – im Gegensatz zu Stelzhamer, dem fahrenden Sänger – ein sesshafter Mann.
Im knappen Abstand von zwei Jahren waren sie in das beginnende 19. Jahrhundert hineingeboren worden, in einen Polizeistaat, in dem die Zensur allgegenwärtig war. „Jede Regung des Volksgeistes galt als Aufruhr, jede höhere Begabung von vornherein als verdächtig.“ (Nagl / Zeidler / Castle)
Deutlicher als alle Anklagen gegen das „System“ in dieser Ära Metternich-Sedlnitzky – Metternich Staatskanzler, Sedlnitzky Leiter der Polizei- und Zensurhofstelle – sprach Franz Grillparzers monumentaler Stoßseufzer: „Ein österreichischer Dichter sollte höher gehalten werden, als jeder andere. Wer unter solchen Umständen den Muth nicht verliert, ist wahrlich eine Art Held.“
In der 1899 veröffentlichten „Deutsch-Österreichischen Literaturgeschichte“ rühmten die Historiker Nagl / Zeidler / Castle die oberösterreichische Dialektdichtung, sie sei „ungleich reicher“ als jene anderer Bundesländer. Wesentlichster Repräsentant „seines Bauernvolkes“ sei dieser Mann aus Großpiesenham, Franz Stelzhamer, ein Unbeugsamer, mit scharfer Selbstbeobachtung bis in die feinsten Schattierungen gesegnet, „sprachgetreu gegenüber der heimischen Mundart, ja sprachgewaltig bis zur produktiven Neubildung scheinbar uralter Ausdrücke, in denen der Dialekt gleichsam potenziert“ erscheine.
Wie man aber Goethe und Schiller erst im Gegensatz zueinander erfassen könne, trete uns ein volles Bild der Bedeutung Stelzhamers erst entgegen, wenn wir ihn an einem anders- gearteten Dialektdichter, etwa an Kaltenbrunner messen. Es sei begreiflich, dass die dichterischen Erfolge des Piesenhamers Nachahmer weckten, die freilich das Original nicht erreichten.
„Kaltenbrunner spricht nicht, wie ein Bauer spricht: sondern wie dieser höchstwahrscheinlich spräche, stünde er auf gleicher Stufe des Geistes und Gemütes, wie der edelsinnige, feinfühlende Dichter.“
Oberösterreichisch gesagt: Netta wann a Bauer ah so gebildet waa wia da Dichter, kunnt er so redn, wia eahm’s der Kaltenbrunner in Mund legt.
Der Germanist Carl Greistorfer vergleicht in seinem „Gymnasial-Programm“ (Linz 1863) Kaltenbrunner und Stelzhamer mit folgenden Worten: „Kaltenbrunner gleicht einem aus dem Bauernstande hervorgegangenen Herrn, der nur von Zeit zu Zeit, um frische Luft zu schöpfen, auf das Land eilt, während Stelzhamer dort ansäßig ist. Die Sehnsucht führt ihn unter die ländliche Bevölkerung, in welcher er als liebreicher Gast schöne Erholungsstunden zubringt, während Stelzhamer die schlimmen und guten Tage mit dem Volke verlebt.
Kaltenbrunner, der poetische Berichterstatter, ist eine angenehme literarische Erscheinung, Stelzhamer, der ideale Bauer, ein psychologisches Phänomen.“
Mit diesem Ausführungen über Stelzhamer und Kaltenbrunner sei aufgezeigt, wie intensiv und ernsthaft sich die Germanistik jener Zeit mit Mundartliteratur befasste. Sie galt nicht als minderwertig.
Ein weiterer Mundartdichter des 19. Jahrhunderts, ebenfalls beliebt und anerkannt, wenngleich ihm das Talent zum „Popstar“ (wie Stelzhamer) und der Umgang mit der Prominenz (wie Kaltenbrunner) fehlte, war Anton Schosser (1801 – 1849), Sohn eines Nagelschmieds in Losenstein im Ennstal. Von ihm stammt zum Beispiel der Text zum Erzherzog-Johann-Jodler („Wo i geh und steh, tut ma ‘s Herz so weh…“), ein Lied, das ursprünglich den Titel „s Hoamweh“ trug. Seine Gedichte gerieten entweder sehr schwermütig oder überschäumend fröhlich, abhängig von seinen momentanen Lebensumständen. Denn er durchlebt viele Tage größter Not, Schosser kannte den Hunger.
In volkstümlicher Sprache schilderte er den Alltag der kleinen Leute. Seine Art vorzutragen war einzigartig, sie wird bis heute oft nachgeahmt: Als Einleitung dient irgendeine Chorstrophe nach einer bekannten Melodie, die von allen mitgesungen werden kann. Danach spricht der Dichter einen Teil des neuen Textes, bis wieder der Chor einsetzt – ein ständiger Wechsel von Vortrag und Gesang.
Aus der Generation nach Stelzhamer sticht Norbert Hanrieder (1842 – 1913) hervor, der wichtigste Mundartdichter des Böhmerwalds. Der Germanist, Pfarrer und Dechant beschrieb geradezu lustvoll den granitenen Menschenschlag seiner engeren Heimat und scheute kein offenes Wort. So schrieb er etwa in den „Mühlviertler Gstanzln“, man solle sich nichts gefallen lassen.
Net len und net gách,
awá kirni und zách,
dábei alliweil frisch,
das is mühlviertlerisch!
I tua, was i will,
wanns mi gfreut, halt i still,
gfreuts mi net, dráh i áf
und laß´s durigehn bráv.
Á Mühlviertlá sei
und net “hui nachá” schrei,
wann wer schimpfát áf uns da,
das gáng má net ei!
Mir zoign koani Messá
wia d’ Innviertlá drent;
bei uns wird glei oaná
mitn Fäustn dárrennt!
Zur Erklärung: “hui nachá!” ist eine Aufforderung zum Raufen, etwa „kimm nach, gemma aussi…“
Pfarrer Hanrieder widmete sich mit Vergnügen auch dem zutiefst Menschlichen, nichts war ihm fremd, weder der „gache Zurn“ (Jähzorn) noch die Liebe; er bewegte sich freilich bei weitem nicht immer in derart seichtem Gewässer. Sein wichtigstes Werk ist ein großes Epos über den oberösterreichischen Bauernkrieg.
Zurück ins Innviertel. Großpiesenham in der Gemeinde Pramet (Bezirk Ried) ist bekannt als „Dichterdorf“. Dort stehen das Stelzhamerhaus und das Schatzdorferhaus des Tischlers, Geigenbauers und Mundartdichters Hans Schatzdorfer (1897 – 1969). Ab 1922 reiste er mit Stelzhamerbund-Gründer Dr. Hans Zötl 15 Jahre lang durchs Land, um Stelzhamers Werk populär zu machen. 1933 begann er, eigene Dichtungen zu veröffentlichen, und bald erntete er großen, berechtigten Erfolg.
Ein spät berufener Autor war ein weiterer Innviertler, Gottfried Glechner (1916 – 2004), populär als Verfasser und einzigartiger Rezitator köstlicher Kurzgeschichten. Sein Hauptwerk, geschrieben in Innviertler Mundart in perfektem Hexameter, ist das faszinierende Epos „Der Bairische Odysseus“, aber auch seine Version des mehr als 700 Jahre alten „Meier Helmbrecht“-Stoffes zeigt ihn als Großen dieses Fachs. Gottfried Glechner, ein meist schelmisch lächelnder, humanistisch gebildeter Mann, Germanist und Altphilologe, war ein Literat ohne Dünkel. Wissenschaftlichkeit hatte für ihn nichts damit zu tun, ob sich jemand „schön“ hochdeutsch auszudrücken versteht. Er selbst beherrschte es perfekt – und sprach dennoch meistens seine Innviertler Mundart. Denn: „De soin si schamá, de si eahnárá Mundart schamán.“
Je weiter wir heraustauchen aus der Tiefe der Zeiten, desto schwieriger wird die Auswahl. Erst ein zeitlicher Abstand von Jahrzehnten ermöglicht eine gültige Einschätzung: Wer war bedeutend, wessen Kunst erlangt Einfluss und wirkt nach?
Sehr viele sind diesen Weg gegangen – Naturtalente, autodidaktisch oder universitär Gebildete, höchst unterschiedliche Denker. Eines hatten sie gemeinsam: Sie wirkten auf der Grundlage dessen, was „man“ unter Dichtung zu verstehen habe. Vorbilder sind etwas Großartiges. Doch wenn ihre Nachfolger zu bloß nachahmenden Epigonen geworden sind, dann muss sich etwas ändern.
Deshalb hat sich auf Anregung Karl Pömers, meines Vor-Vor-Vorgängers an der Spitze des Stelzhamerbundes, eine Dichtergruppe gebildet, die „anders“ schreibt. Vor genau 20 Jahren, am 26. September 1997, wurde sie gegründet, die Gruppe „neue mundart“ im Stelzhamerbund.
Es war ein weiter Weg. Wir sind ihn nicht vergeblich gegangen.
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Quellen: Johann Willibald Nagl / Jakob Zeidler / Eduard Castle, „Deutsch-Österreichische Literaturgeschichte“, Verlag Carl Fromme, Wien und Leipzig, 1899; Leopold Hörmann, Biographisch-kritische Beiträge zur österreichischen Dialektliteratur, E. Pierson’s Verlag, Dresden, Leipzig und Wien, 1895.